Solidarökonomie … der Ariadnefaden aus dem (inter)nationalen Kapitalismus-Labyrinth?
Alltag in Kreta – lokale Genossenschaften und nationale Politik
WOZ -LESERREISE 8.-15. Oktober 2022
Die Wochenzeitung WOZ führt seit Jahren Leserreisen zu gesellschaftlichen Brennpunkten in ganz Europa durch und will damit linke Lösungsansätze konkret studieren. Die Reise vom Herbst 2022 hatte Kreta zum Ziel und versprach Begegnungen mit Menschen und Gruppen, die in den jahrelangen Krisen Griechenlands einen gemeinsamen Ausweg suchen.
Im Mittelpunkt stand der Soziologe Skevos Papoioannou, täglich als Übersetzer, dann als Referent und Führer bei den Begegnungen mit den Solidargenossenschaften. Geboren wurde Slevos 1947 in Kos; nach Studien in Thessaloniki wanderte 1973 zur Zeit der Militärdiktatur in Griechenland nach Deutschland aus und promovierte in Erlangen, kehrte 1983 zurück und lehrte der an den Universitäten von Kreta und Kassel Soziologie mit Lehraufträgen an weiteren Universitäten. Daneben hat er auch soziale und politische Bewegungen unterstützt und sich selbst aktiv beteiligt. So entschied er sich, bei den diesjährigen Parlamentswahlen in Griechenland für die neu erstarkte, linke Partei „Syriza“ zu kandidieren.
Seit Jahren hat er sich auch publizistisch und mit Referaten für die Soziale Ökonomie eingesetzt; er war beteiligt an verschiedenen Projekten, zu denen er die Gruppe geführt hat.
Zum Begriff Solidarökonomie lese ich im Wikipedia-Artikel:
Solidarische Ökonomie bezieht sich auf bedürfnisorientierte, soziale, demokratische und ökologische Ansätze. Solidarökonomische Projekte sollen grundsätzlich im Dienste des Menschen stehen. Weiterhin basiert sie häufig auf der Überzeugung, dass jeder Mensch Teil der Gesellschaft ist und seine Arbeit wesentlich zum Fortschritt beiträgt.
Die Reise von 2022 wurde organisiert vom langjährigen Redaktor der WOZ, Pit Wuhrer. Zur Vorbereitung konntewir denn auch auf die informative Beiträge in der WOZ zurückgreifen, besonders auf Aufsätze von Petros Markaris aus Athen und von Skevos Papaioannou.
Zu Pits besonderen Verdiensten gehört die vollständige Dokumentation der Vorträge und Besuche, illustriert mit gegen 500 (!) Fotos sowie der Zusammenstellung der wichtigsten Publikationen von Skevos Papaioannou und Artikel des Griechenlandspezialisten Nils Kadritzke in der Monde Diplomatique.
Im Mittelpunkt stand der Soziologe Skevos Papoioannou, täglich als Übersetzer, dann als Referent und Führer bei den Begegnungen mit den Solidargenossenschaften. Geboren wurde Slevos 1947 in Kos; nach Studien in Thessaloniki wanderte 1973 zur Zeit der Militärdiktatur in Griechenland nach Deutschland aus und promovierte in Erlangen, kehrte 1983 zurück und lehrte der an den Universitäten von Kreta und Kassel Soziologie mit Lehraufträgen an weiteren Universitäten. Daneben hat er auch soziale und politische Bewegungen unterstützt und sich selbst aktiv beteiligt. So entschied er sich, bei den diesjährigen Parlamentswahlen in Griechenland für die neu erstarkte, linke Partei „Syriza“ zu kandidieren.
Seit Jahren hat sich auch publizistisch und mit Referaten die Soziale Ökonomie eingesetzt; er war beteiligt an verschiedenen Projekten, zu denen er die Gruppe geführt hat. Mit seinen engagierten Erklärungen und durch seine temperamentvollen Ausführungen zog er alle in seinen Bann.
Als Soziologe kennt er und belegt mit konkreten Zahlen die katastrophalen Auswirkungen der globalen Finanzkrise von 2007 und der sogenannten Brüsseler Memoranden mit der verhassten Troika die griechische Wirtschaft, was alles zu einem Abbau der sozialen Sicherheit und zu einer Strangulation jeder Wachstumsinitiative geführt hatte. In Stichworten: Arbeitslosigkeit, soziale Exklusion, prekäre Lohnverhältnisse und Privatisierung, Deregulierung des Arbeitsmarktes, Emigration von bstens ausgebildeten jungen Leuten, etwa dass in Deutschland 2012 circa 6000 griechische Ärzte beschäftigt waren, während seit 1990 mehr als 1 Million Ausländer nach Griechenland gekommen sind, sodann die Flüchtlinge, die nach der Schliessung der Grenzen gegen Zentraleuropa hier aufhalten. Die Krise erweist aber aber auch als Chance für einen epochalen Wandel:
Er erzeugt neue und verlangt die Wiederentdeckung von vergessenen Lebensorientierungen und -praktiken, Fähigkeiten und Wertvorstellungen, aber auch Aufgaben der Zivilgesellschaft für Solidarität, Gerechtigkeit und praktisches Interesse für das Gemeinwesen. In der Tat wird man Zeuge einer großen Solidarisierungsbewegung, die sich über ganz Griechenland ausbreitet und sehr verschiedene Formen annimmt. Einige Initiativen sind rein philanthropisch, andere sind Überlebensaktionen, aber sehr viele davon beinhalten einen gesellschaftspolitischen Aspekt, der über ein kurzfristig orientiertes Überlebensziel hinaus ausgerichtet ist. Die Projekte reichen von kommunalen Suppenküchen, Kleiderkammern, genossenschaftlichen Supermärkten, Gemeinschaftsgärten und landwirtschaftlichen Kooperativen, über kostenlose Bildungs- und kulturelle Angebote, medizinische Ambulanzen und solidarische Krankenhäuser und Apotheken mit ehrenamtlich tätigen Ärzten, Apothekern und Pflegepersonal…
Der paradigmatische Blick nach unten, zu den Produktions- und Lebensverhältnissen der Menschen, ist verknüpft mit der Wiedereroberung öffentlicher Räume und kollektiver Erlebniszeiten, die das lebendige Gemeinschaftsleben mitprägen. Gelingt dieser Paradigmenwechsel, dann öffnet sich auch der Blick auf die Vielfältigkeit der Gemeinwesenarbei
(Zitate ausAufsätzen von Skevos Papoioannou)
Die Reise sollte also uns mit Leuten bekannt machen, die von ihren Zielen, Projekten, Plänen und Erfolgen in ihrer Anwort auf die Krise erzählen konnten.
Ganz persönlich engagiert zeigte sich Skevos, wenn er von der Geschichte Kretas mit der ständigen Fremdherrschaft und den Freiheitskriegen sprach, besonders aber von den Gräueln der Nazi-Besetzung.
In einer berührenden Videolesung mit Fotos, lyrischen Texten griechischer Lyriker (von den Teilnehmern in der Übersetzung von Skevos vorgetragen) und Musikbeispielen bekannter Musiker eröffnete er einen emotionalen Zugang zur griechischen Geschichte der Insel und den Leiden der Menschen. (Er hatte dazu auch bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung unter dem Titel Lesung/ Gespräch Erinnerung als Widerstand referiert.)
Von den 19 Texten sei hier einLied von Manolis Rasoulis, abgedruckt:
(Video:https://www.youtub.com/warsch?v=zRukgGezW34)
(
23.01.2013
Ως και τ‘ αγάλματα
κάνουνε άλματα
Μ‘ αυτοί που ξέρουν δε μιλάνε Όλα τα πράγματα
γίνονται θαύματα
κι οι νεκροκεφαλές γελάνε
Αυτός ο κόσμος
μπορεί ν‘ αλλάξει, Κεμάλ Μέσα στις καρδιές
στις πλατείες, σε γραφεία οβάλ θέλει σωστοί χιλιάδες
να `ναι στους τροχούς
να `ναι η ψυχή η νύφη
και γαμπρός ο νους
Τα προαιώνια
κρύβουν νετρόνια π
ου με μία έκρηξη αλλάζουν Και οι θεούληδες
οι καημενούληδες
γίνονται ντεμοντέ κι αράζου Selbst die Statuen springen
Aber die, die es wissen, sprechen nicht
Alle Dinge wandeln sich
in Wunder um.
Selbst die Schädel der Toten lachen.
Diese Welt
kann verändert werden, Kemal.
In den Herzen
auf den Plätzen, in ovalen Büros werden allerdings Tausende von Aufrechten an den Rädern sein.
Die Seele soll die Braut sein und Bräutigam der Geist.
Die uralten Dinge
verstecken Neutronen
welche sich mit einer Explosion verändern. Und die Götter,
die armen
werden altmodisch und chillen.
Diese Video Lesung im Bergdorf Anoja darf mit gutem Recht an den Anfang meines Berichtes gestellt werden. Sie beschloss einen langen Tagbeschloss einen langen Tag, der die Gruppe in ein Bergdorf. hinauf geführt hatte und darüber hinaus auf die Nida-Hochebene, Ausgangspunkt zurm Psiloritis mit der mythischen Geburtsgrotte von Zeus.
Anogia ist auch gekannt als dorf aus dem viele Musiker stammen, allen voran die Musiker aus der Familie Xylouris.
Fotos vom Video-Vortrag
Anogia – Widerstand in den Bergen
Anogia (ausgesprochen Anoja) liegt in den Bergen zwischen Rhethymno und Heraklio. an der Strasse, die nach Süden auf die Nida-Hochebene führt; das Dorf ist Zentrum der Schafzucht: Ca. 100 000 Schafe sollen von hier aus gesömmert werden.
Im Zweiten Weltkrieg war der Ort ein Zentrum des Widerstands gegen die Deutschen, die mehrmals gegen Einwohner des Dorfes vorgingen. Am 13. August 1944 zerstörten sie das Dorf als Vergeltung für die von Patrick Leigh Fermor organisierte Entführung des deutschen Generalmajors Heinrich Kreipe.
Befehl vom 13. August 1944:
„Da die Stadt Anogia ein Zentrum der englischen Spionagetätigkeit auf Kreta ist, da die Einwohner Anogias den Sabotageakt von Damasta ausgeführt haben, da die Partisanen verschiedener Widerstandsgruppen in Anogia Schutz und Unterschlupf finden und da die Entführer Generals Kreipe ihren Weg über Anogia genommen haben, wobei sie Anogia als Stützpunkt bei der Verbringung nutzten, befehlen wir den Ort dem Erdboden gleichzumachen und jeden männlichen Einwohner Anogias hinzurichten der innerhalb des Dorfes oder in seinem Umkreis in einer Entfernung bis zu einem Kilometer angetroffen wird. Chania den 13. August 1944. Der Kommandant der Festung Kreta, H. Mülleroder in seinem Umkreis in einer Entfernung bis zu einem Kilometer angetroffen wird. Chania den
13. August 1944. Der Kommandant der Festung Kreta, H. Müller“.
Nach dem offiziellen Totenregister wurden während der gesamten Besatzungszeit 117 Einwohner von den Deutschen exekutiert. Nach dem Krieg wurde das Dorf wieder aufgebaut. Aus diesen Ort stammt Volksmusikstradition mit Musikern, die in ganz Griechenlands bekannt sind.
unten: Wandbild in Anoja, das an die Massaker der Nazi-Zeit erinnert.
oben: Bergdorf Anogia
unten: Die Gruppe an der Konferenz mit dem Bürgermeister von Anogia – er ist wirklich der grösste!.
Im Dorf gibt es auch ein Asylzentrum mit vorwiegende Jugendlichen, dessen LeiterInnen uns am Nachmittag von ihren Erfahrungen berichteten.
Erfolgreiche Frauen im Bergdorf Gergeri
Eine zweite Exkursion in die Berge führte uns nach Gergeri. Dort war aus einem Soziologieprojekt an der Fachhochschule letztlich ein Projekt mit Frauen entstanden: völlig unabhängig und mit einer Selbstausbeutung in der Aufbauphase von mehreren Jahren, haben es neun Frauen geschafft, eine gut gehende Cooperative mit Landwirtschaftsprodukten den Weg zu bringen; unterstützt wurden sie vom damaligen Bürgermeister dieses Ortes die Frauen. Dass dieser wirtschaftliche Aufbruch auch ein gesellschaftlicher und politischer Aufbruch war, zeigt sich u.a. in der Tatsache, dass zwei der Frauen als Stadträtinnen gewählt wurden. Interessante Gespräche mit ihm und den Frauen die ergaben sich vor und während des gemeinsamen Essens.
Seit über zwanzig Jahren besteh die Frauenkooperative, IDEA. Maria Anastassaki, Vorsitzende der Kooperative. mit dem ehemaligen Bürgermeister des Orts, Fanis Oikonomakis
Bilder vom Besuch einer Arbeitsgemeinschaft der Lebensmittelkooperative Apo Koinou („Gemeinsam“) in Heraklion.
Das lokale Zentrum der Syriza – Ort zahlreicher Vorträge und Begegnungen
Ein wichtiger Teil der Vorträge und Gespräche fand im Lokal in Zentrum der Syriza in Rhethimno statt. Syriz ist eine Abkürzung, der volle Namenlautet Συνασπισμός Ριζοσπαστικής Αριστεράς (Synaspismos Rizospastikis Aristeras) und bedeutet übersetzt „Koalition der Radikalen Linken“ und die grösste sozialistische Partei
Griechenlands.
Syriza ist sei 2004 aus einem Wahlbündnis aus 10
linken Splittergruppen entstanden und hatte bis
2012 einen Aufsehen erregenden Aufstieg als neu
gegründete Partei, profitierte vom Niedergang der
Pasok, wurde 2015 stärkste Partei und konnte
unter Alexis Tsipras bis 2019 die Regierung stellen.
Er profilierte sich als wendiger, aber auch
umstrittener Kritiker und Gegner der von Brüssel aufgezwungenen Sparmassnahmen. Vor allem in städtischen Gebieten wurde die Partei stärkste Kraft und erreichte bei den Parlamentsahlen 2015 35,46 % der Stimmen.
Als Besonderheit der Syriza gilt die grosse Bedeutung, welche sie der Modernisierung der Gesellschaft beimisst:
Zur Unterstützung der vielen im Zuge der Krise entstandenen sozialen Projekte hat Syriza neben anderen Parteien und Organisationen zur Gründung der landesweiten Koordination Solidarität für Alle beigetragen.[28] Diese genossenschaftlichen Formen der Selbsthilfe sind vor allem nach den Protestwellen im Dezember 2008 sowie im Sommer 2011 entstanden. Dazu gehören unter anderem soziale Kliniken und Apotheken, Suppenküchen, Konsumgenossenschaften, Umsonstmärkte, Tauschringe und andere Formen der solidarischen Ökonomie. (Wikipedia Artikel Syriza Jan. 2023.)
Es ist hier nicht der Ort, die Politik und die politischen Ziele der Syriza darzustellen und zu kommentieren; hingegen sind ihre sozialpolitischen Forderungen im Zusammenhang mit unserem Reiseprojekt erwähnenswert und verdienen es, zitiert zu werden:> In der Sozialpolitik setzt sich Syriza vor allem für sozial Benachteiligte in der Gesellschaft ein.
- Erwerbslose, Obdachlose und Menschen mit niedrigem Einkommen sollen die Gesundheitseinrichtungen kostenfrei nutzen dürfen.
- Gebäude der Regierung, Banken und Kirchen sollen für Obdachlose Verwendung finden.
- Steuersenkungen für Güter des Grundbedarfs werden angestrebt.
- Kinder sollen in Kantinen öffentlicher Schulen kostenfrei Frühstück und Mittagessen
erhalten.
- Menschen mit Migrationshintergrund soll die Familienzusammenführung erleichtert werden.
- Zuschuss bis zu 30 % der Hypothekenzahlungen für arme Familien, die fällige Zahlungen
nicht leisten können.
- Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung.
- Steigerung des sozialen Schutzes für Familien mit einem Elternteil, Alte, Behinderte und
Familien ohne Einkommen.
- Garantie der Menschenrechte in Haftanstalten für Einwanderer.
Der Historiker Dr. Vagelis Tzoukas, informierte über die Besetzung Kretas und den Partisanenkampf.
Die folgenden Fotos berichten von weiteren Begegnungen:
Vom Kontakt mit einem Gewerkschafterzu den Problemen des Abbaus von Tarifverträgen; ein Autausch mit einer Studentinnen und einem Studenten der Universität über ihre Perspektiven.
Herzliche und fröhliche Kontakte gab es mit den Kooperativen Cafè-Restaurant ,Chalikouti“ und dem Foto-und Videokollektiv„Obscura“ an der Strasse, die auf die Festung von Rhethymnon führt: Nicht der finanzielle Gewinn steht die Mittelpunkt, sondern die kollegiale und ungezwungene Beschäftigung als wichtiger Teil einer freien und befriedigenden Tätigeit.
Stadtrundgang und Rückblicke in die Geschichte von Rhethymno
Dr. Charis Stratidakis führte zeigte uns auf einer Stadtführung viele Orte und Gebäude, an denen der Tourist achtlos und unwissend vorbeigeht; der Rundgang wurde vertieft in einer umfangreihen Video-Schau mit historischen Aufnahmen.
Was bleibt (mir)?
Zu den Auswirkungen und Chancen der Solidarökonomie in Kreta schreibt Jannis Zaimakis:
Trotz der Probleme, denen Initiativen der Solidarökonomie gegenüberstehen, sind sie eine Werkstätte sozialer Ideen, die Fragen der Gerechtigkeit, der Demokratie und der Gleichheit in den Vordergrund des öffentlichen Diskurses rücken. Gleichzeitig führen sie durch innovative Aktionen und Praktiken der Partizipation die Kultur der Kooperation und der Kollektivität in den Produktionsprozess ein.
Daraus kann leicht die Verbindung hergestellt werden zur Situation in der Schweiz und Mitteleuropa: Die vielen Projekte von Genossenschaften und Solidarwerken sind im gegenwärtigen Kapitalismus mit der Enthumanisierung vielleicht nur ein Nischenprodukt. Aber es sind gute Erfahrungen der Gemeinsamkeit für die Mitbeteiligten und letztlich das Salz einer zukünftigen Wirtschaft jenseits der Zwänge des Neoliberalismus.
An dieser Stelle muss ich den von mir gewählten Titel dieses Beitrags erläutern:
Solidarökonomie … der Ariadnefaden aus dem (inter)nationalen Kapitalismus-Labyrinth?
In der griechischen Mythologie ist Kreta bekannt durch das Labyrinth des Königs Minos, in welchem das ungeheuer Minotaurus haust den jedes Jahr von Athen als Tribute Frauen und Männer werden mussten, bis der attischen Nationalheld Theseus das ungeheuer erlegte und geleitet durch den Faden der Königstochter Ariadne den Rückweg aus dem Labyrinth fand. Die Verwendung der mythischen Bilder in der Gegenwart drängt sich griechischer Sicht auf: das Land litt und leidet unter den Zinszahlungen an den europäischen und internationalen Kapitalmarkt. Der bekannte griechische Ökonom und Politiker hat deshalb seine grundlegende Kapitalismuskritik als seine Analyse der Weltwirtschaftskrise(n)betitelt: DER GLOBALE MINOTAURUS: AMERIKA UND DIE ZUKUNFT DER WELTWIRTSCHAFT.
Die aktuellen Begegnungen brachten immer wieder die Erfahrungen mit der verhassten Trojka in der Wirtschaftskrise Griechenlands in Erinnerungen. Mehr noch aber begegneten wir den Erinnerungen und Spuren der National sozialistischen Besetzung Griechenlands und Kretas zweiten Weltkrieg.
„ALISMONITA- UNVERGESSLICH“ ist eine kleine Broschüre überschrieben, welche vom Beitrag der Frauen während der Gräuel der Besatzung handelt.
Ich habe den kurzen Text übersetzt:
UNVERGESSLICH. FRAUEN AUF KRETA 1941 – 1945
Eine Dokumentation von Barbara Englert und Leonie Englert
Wir sagten ihnen: Waffen haben wir nicht und Männer verraten wir nicht, und sogar wenn ihr uns töten werdet, werden wir nichts sagen. Darauf verbrannten sie uns.
Penelope Kostaki-Grintaki
Zum Projekt „Unvergesslich
Kreta, die Wiege Europas in der griechischen Mythologie, geographisch gelegen zwischen Europa, Asien und Afrika, musste ununterbrochen seine einzigartige Stellung in der Geschichte mit angriffen und Besatzung behaupten. In der nezeitlkchen Grschichte kämpften Frauen und Männer ums Überleben nach dem Einfall der germanischen Eroberer. Mit deren Folgen müssen sie sich bis heute direkt auseinandersetzen. Kreta ist beliebtes Ziel für die Nordeuropäer und speziell für die Deutschen als Feriendestinaton. Während aber für das Volk Kreta der Einmarsch und die ungeheuren Verbrechen immer noch frisch sind, sind sie für die deutschen Touristen zu meist unbekannt. Diese Unkenntnis über die Scheusslichkeiten der deutschen Eroberer und ebenso unsere eigene Verdrängung vieler prägender Bilder der Ereignisse macht für uns deren Aufarbeitung absolut notwendig.
Das Unternehmen Hermes war das grösste Unternehmen der Luftstreitkräfte in der Geschichte. Zu Hunderten bombardierten deutsche Kampfflugzeuge die Städte von Kreta. Auf die Bombardierungen folgten Hunderte von Jagdflugzeugen und Transportflugzeugen, von welchen ungefähr 20 000
Griechenland III Kreta Seite 17 von 21 Fallschirmsoldaten herunterkamen. Während der Dauer des Angriffs befamdem sich fast alle Kreter im wehrfähigen Alter noch auf dem Festland, das der Rücktransport von der albanischen Front sich hinauszögerte. Alles dies führte dazu, dass dier Widerstsn on der breiten Masse der Bevölkerung ausging: Frauen, Betagte und Jugendliche führten den Krieg gegen die Fallschirmtruppen. Sie verteidigten sich mit dem, was sie hatten, beispielsweise veraltete Waffen, Sensen, Mistgabeln, Fallen, Stöcke, Steine. Die Frauen werden in der Geschichtsschreibung sehr häufig unterschätzt, sie bleiben fürs meiste unsichtbar, und ihre Bedeutung wird generell am wenigsten gewürdigt. So erscheinen auch die Frauen in Kreta, welche Widerstand leisteten gegen die deutsche Herrschaft, praktisch überhaupt nicht in den historischen Aufzeichnungen. Und doch waren es genau diese, welche als erste sich den Eroberern entgegenstellten.
Wir gingen auf die Insel ohne irgendeine von diesen Frauen zu kennen und ohne dass wir eine Begegnung hatten vereinbaren können, aber gut ausgerüstet und voller Hoffnung für ihre Erinnerungen. Schnell wurde auf der Insel die Nachricht verbreitet, dass ein Projekt zur deutschen Besetzung von Frauen geplant sei und viele Frauen dankten uns für das Vertrauen. Wir trafen so mit mehr als 40 Frauen zusammen, einige davon heute hundertjährig. Die Überlebenden , die einsam in ihrem Alter lebten, berichten von ihrem Kampf ums Überleben, über ihren Widerstand, beschreiben ihre Ängste und Hoffnungen. Sie erzählen, wie die deutschen Soldaten der Wehrmacht Dörfer anzündeten und zerstörten und die Frauen lebend in die Feuer stiessen, wie Frauen, Kinder und Betagte verfolgt und getötet wurden
Diese geschichtlichen Zeugnisse verbinden wir mit einem Figurentheater, damit sie erneut sichtbar werden im Fokus einer anderen Technik. In gleicher Weise unterstützt die Darbietung in der Form einer Stiftung die Erwartung.
Eine zufällige Entdeckung
Stich zur Ausdehnung des alten Rhethymno
Es ist erstaunlich, wie wenig materiell in Form von Bauten aus der Zeit der türkischen Besatzung noch vorhanden ist, obwohl es gerade mal gut 100 Jahre sind, seit die Insel griechische ist. Zufällig bin ich auf ein Buch des griechischen Lyrikers Pandelis Prevelakis (1909 –
1986( gestossen, in welchem er den Abzug oder die Auswanderung der türkischen Bevölkerung aus Kreta schildert und dies auch aus eigener Erfahrung, die er in seiner Geburtsstadt Rhetymno machte; es ist dies seine erste historische Schilderung, die er 1938 seiner Heimatstadt widmete.
Die Chronik einer Stadt wurde 1981 für den Suhrkamp-Verlag in von Gisela von der Trenck ins Deutsche übersetzt und in Heraklion in 1000 Exemplaren gedruckt. Ob es eine neue Ausgabe gibt, weiss ich nicht; im Autorenverzeichnis von Suhrkamp ist Pandelakis und auch die Übersetzerin unbekannt.
Jedenfalls ist die realistische und durch und durch menschliche Schilderung der Auszugstragödie auch heute nach äusserst lesenswert, da er das sozial sehr differenzierte Leben in der damals blühenden Stadt schildert.
Man gab den Türken mehrere Monate Frist, um sich vorzubereiten, und setzte den Tag fest, an dem die Schiffe sie abholen sollten. Auf der ganzen Insel lebten, so kann man rechnen, mehr als fünfzigtausend Türken, und unter ihnen hätte man mit Mühe zweihundert gefunden, die bereit waren, in die Fremde zu ziehen. Den übrigen brach das Herz beim Gedanken, daß sie von dem Boden vertrieben werden sollten, der sie genährt hatte – von Haus und Hof und von ihrem Hab und Gut -, und jedes einzelnen Überlegungen, was er mitnehmen sollte, drehten sich hilflos im Kreis. Aber was sollte er machen, der Arme, da es ihnen allen erging wie einer Hausfrau in Re-thymno, in deren Haus ein Brand ausbrach und die die Bratpfanne ergriff und auf die Straße lief, um sie zu retten, als wäre sie das wertvollste Stück ihres Hausrats. Da waren Türken, die gerade eben ihr Haus gebaut hatten und denen in dem Augenblick, als die Gipser endgültig Feierabend machten, gesagt wurde, sie sollten die Schlüssel an der Tür steckenlassen und abziehen; andere, die in jenem unseligen Jahr die erste Ernte von ihren Ölbäumen erwarteten, und Ölbäume brauchen ja, um heranzuwachsen und Frucht zu tragen, über fünf Jahre; Händler, die gerade die Ware des ganzen
Jahres in Empfang genommen hatten und sie jetzt notgedrungen um jeden Preis losschlagen mußten. Eine Vielzahl von Fällen solcher Art ließe sich anführen! Die einen hatten die Weinberge gepflanzt, die anderen würden den Wein trinken.
»Wer Schmerzen leidet, der schreit wie ein Esel.“ Man hörte also zum einen das Jammern der Türken, die gezwungen wurden zu gehen, und zum andern das der Flüchtlinge, die sich an die Brust schlugen, weil sie ihr Heim verloren hatten, und fragte sich, was für gottverlassene Unmenschen diejenigen sein müssen, die über das Leiden des Menschen hinweggehen, und was sie dabei zu gewinnen glauben. Es kam der bittere Tag, die Dampfer ankerten draußen, der Stadt gegenüber, und die Türken begannen sich einzuschiffen.
Schon am Vorabend hatten sie ihre Sachen zum Hafen gebracht – man kann sich nicht vorstellen, was alles der Unglückselige mit sich nimmt, der das Land für immer verläßt! – und nahmen nun von ihren leeren Häusern Abschied. Aber was dort über sie kam – mein Gott! Irgendein Verrückter hatte die Fensterläden seines Hauses ausgehängt, um auch sie in das fremde Land mitzu-schleppen. Das übernahm der eine vom andern wie eine ansteckende Krankheit: sämtliche Türken fielen über das Holzwerk ihrer Häuser her, warfen die Fenstergitter zu Boden, montierten die Türrahmen ab, rissen die Fußböden heraus – und das alles in einem Anfall von Wut und Raserei, der das Gegenteil zu der Geduld und Vernunft war, die sie bis zu jenem Tage gezeigt hatten. So geriet, von einem Augenblick zum anderen, das Türken-viertel in Aufruhr, es ächzte wie ein Wald, der gefällt wird, es knarrte und krachte, es brüllte wie der Büffel, der geschlachtet wird.
Die Christen bekamen Wind davon, irgend jemand steckte ihnen, die Türken wären im Begriff, Feuer zu legen, und sammelten das Holzwerk von ihren Häusern: die Lage wurde mit einem Schlag ernst. Die Flüchtlinge, die darauf warteten, daß die Türken endgültig gingen, um ihrerseits einzu-ziehen, sahen, wie die Häuser mitten im Winter demoliert wurden; sie packten, was sie gerade vor sich fanden, und stürmten erbittert los, um dem Unheil ein Ende zu bereiten. Die Glocken wurden geläutet,
das Militär rückte bewaffnet aus, die Dampfer tuteten, die gesamte Stadt war auf den Beinen – es war ein unbeschreiblicher Aufruhr.
Dann bildeten die Soldaten einen Sperrkordon um das Türkenviertel, sie besetzten die Zugänge zum Hafen und forderten die Türken auf, einzeln herauszukommen und zu den Booten zu gehen. Eine Zeit verging finster und endlos wie eine Nachtstunde, die Leute wurden ohnmächtig vor Aufregung, schließlich machten die Türken Anstalten, zum Hafen zu gehen. Mit zerrissenen Kleidern traten sie heraus, von ihren Händen tropfte Blut, die Türkinnen hatten ihre Gesichtsschleier weggeworfen. Einzeln hintereinander gingen sie zwischen dem doppelten Kordon der Soldaten hindurch, gleich Dieben, die man auf frischer Tat ertappt hat, mit scheelen Blicken und geröteten Augen, die Lippen vor Wut verbissen. Sie bestiegen die Boote, die Hafenbehörde sorgte für die ordnungsgemäße Verladung ihrer Habe und schickte sie ihnen auf die Dampfer, es wurde Nacht und wurde wieder Tag, und noch immer nahm diese Arbeit kein Ende.
Am Mittag des nächsten Tages hörten wir die Dampfer dreimal tuten und das Gerassel der Ankerketten vom Ufer widerhallen. Und dann einen Schrei aus Tausenden von Kehlen, von Männern, von Kindern und Frauen, einen Schrei, den Gott dich niemals zu hören verdammen möge, erbit-tert, flehend, leidvoll und drohend, den der Wind mitnahm und uns stoßweise zutrug … Und so schieden wir von den Türken.
Kurios ist auch die Schilderung einer angeblichen Türkin, die jahrelang in einem Hammam gearbeitet hatte, sich jetzt aber mit guten Gründen der Auswanderung widersetzt und beim Konsul vorspricht:
Zu den Zurückgebliebenen gehörte auch die Badefrau im türkischen Bad, dem Hammam, deren Geschichte wahrhaftigen Gotts nicht ihresgleichen hat. Wie es gekommen war, daß sie in Rethymno lebte, wußte niemand zu sagen, noch hatte je jemand danach gefragt. Und sie selbst machte nie den Mund auf, um darüber zu sprechen, gleichsam als wäre sie stumm. Alle, die häufig ins Hammam gingen, ließen sich von ihr betreuen, ohne daß sie verlangten, von ihr unterhalten zu werden, selbst wenn die Betreuung über das Übliche hinausging, wie einer zu bezeugen wußte, der zu jung geheiratet hatte und überaus regelmäßig im Hammam zu finden war. Höchstens hatte man einmal gelegentlich eines Scherzes sagen hören, daß keine andere Frau so weiße Beine hätte wie sie, aber auch das war nur so dahingeredet. Als die Türken sich für die Ausreise zu rüsten begannen, war auch diese Kyra-Fatima – um sie bei ihrem Namen zu nennen – einige Tage sehr bedrückt. Sie runzelte ihre Stirn vor lauter Nachdenken, doch plötzlich, als wäre sie aus einer tiefen Betäubung erwacht, rieb sie sich gründlich die Augen, stürzte hinaus ans Licht des Tages nach so langen Jahren der Klausur und lief geradenwegs zum französischen Konsulat.
Konsul war damals einer von jenen guten, sanftmütigen und einsichtsvollen Männern, wie sie die alten Patrizierfamilien von Rethvmno hervorbringen und bei denen die Jahre offenbar den Verstand schärfen anstatt ihn abzustumpfen. Er wußte mehr von der Welt als alle zwölf Räte des Königs zusammengenommen und überschaute die Dinge und das menschliche Tun, als wäre alles vom selben Stoff zugeschnitten; und diesen seinen gelassenen und unpersönlichen Blick pflegte er als seine Freiheit zu bezeichnen. Zu dem Mann ging Fatima mit niedergeschlagenen und verweinten Augen und sprach französisch zu ihm – jawohl, französisch sage ich -, und was sie sagte, bewahrte sie vor der Zwangsvertreibung in die Türkei. Der alte Konsul, der frei genug war, um über Menschlich- Allzumenschliches zu sprechen, übersetzte die Geschichte dieser Frau in unsere Sprache, und ich gebe sie so wieder, wie sie mir zu Ohren gekommen ist.
»Mein Name ist nicht Fatima, sondern Hortense, und ich stamme aus der Provence in Frankreich.
Mit sechzehn Jahren hat mir ein umherziehender Quacksalber den Kopf verdreht, mich aus meinem Dorf weggelockt und mich dann im Hafen von Marseille verkauft. Da unten habe ich mich durchgebracht, wie sich die schutzlose Frau eben durchbringt, und ich habe das Leben erfahren, als hätte ich jeden einzelnen Tag hundertmal durch-lebt. Ich habe alle Rassen kennengelernt, habe geliebt und bin geliebt worden, und nicht ein-oder zweimal, sondern oft genug gab es vor meinen Augen Messerstechereien um meinetwillen.
Ein Vermögen habe ich nicht gemacht, aber ein Vermögen ist durch meine Hände gegangen – einen Palast hätte man damit einrichten können.
Was die eine Hand einnahm, das nahm ihr die andere ab und gab es weiter. So kam ich in die Dreißig, und man kann sagen, damals war ich in der Blüte meiner Jahre. Wir schrieben das Jahr 1897, und von Marseille liefen in jenem Jahr ein paar Kriegsschiffe aus, um sich mit der Flotte Englands, Rußlands und ich weiß nicht welcher anderen in den Gewässern von Kreta zu vereini-gen. Das erfuhren wir in dem Haus, wo ich arbei-tete, von einigen Offizieren, die unsere Kunden waren, und ungefähr zehn von uns Midchen ent schlossen sich, der Flotte nachzureisen. Sehn Sie, ich war damals am Wendepunkt meines Lebens und mußte an mein Alter denken. Wir schifften uns im Monat November in Marseille ein, vertrödelten ein paar Wochen im Hafen von Neapel, und genau zu Neujahr kamen wir in der Bucht von Souda an. Wir fanden die Flotten vor Anker lie-gen, flaggengeschmückt, als wollten sie uns willkommen heißen. Wir hatten kaum Zeit, uns um-zuziehen, da waren wir schon mit Beschlag belegt.
Mein Schicksal wollte es, daß mich der russische Admiral Andrejew auf sein Flaggschiff nahm.
Noch am selben Abend begann das tolle Treiben.
In dieser verlassenen Gegend fehlte es an nichts, den Kaviar zum Beispiel brachten sie eimerweis auf den Tisch, und den Wein schafften sie im Schlauch von den französischen Schiffen aufs rus-sische. Als sie allesamt total betrunken am Boden lagen, schickten die anderen Schiffe Boote, um uns zu holen, und oben am Fallreep stand zu unserem Empfang der Admiral höchstpersönlich.
Unserer hieß Potier, der Engländer Harris, der Italiener Canevaro. Die Namen der anderen habe ich vergessen. Auch da ging es ans Feiern, bei Tagesanbruch waren wir noch auf den Beinen.
Waren wir den Wein über, verlegten wir uns auf scharfe Getränke. Waren wir davon erledigt, bestellten wir Limonaden und Süßigkeiten. Wenn ich trinken wollte, brachten sie mir auf einem Tablett eine ganze Batterie Gläser und obendrauf, allein, das meine….“
Die Geschichte der Hortense als Edeldirne von Kapaitänen kommt vielleicht manchem bekannt vor: tatsächlich hat sie Nikos Kantzakis, der wohl bekannteste Schriftsteller der Neuzeit in Griechenland und Freund von Prevelakis, in seinem Alexis Sorbas als Bubulina übernommen!